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„Ich habe keine Zeit zum Trauern“ – Die Falle der Trauer-Prokrastination und was sie mit uns macht

Junge Frau sitzt erschöpft vor einem Berg von Papieren. Das Bild symbolisiert die Trauer-Prokrastination und die Überforderung beim Trauer aufschieben durch Aktionismus.


Eine liebe Freundin von mir hat gerade ihre beste Freundin verloren. Und ich durfte die Lebensrede machen. Und nach der Trauerfeier hat sie ganz verzweifelt zu mir gesagt: „Hanna, ich kann gerade nicht traurig sein. Ich muss erst mal funktionieren.“


Und ich wusste sofort, was sie meint. Und ich denke, dass viele von Euch, die einen Verliust erlebt haben, das auch kennen werden: nach einem Verlust stürzen wir uns in To-do-Listen, in Organisation, in Termine.

Wir rufen das Bestattungsinstitut an, planen die Feier, kümmern uns um Versicherungen, Sterbeurkunden, die Wohnung – und vergessen dabei ganz uns selbst. Wir nehmen uns keine Zeit für uns. Für das, was wir verloren haben.


Man nennt das Trauer-Prokrastination – also das Aufschieben der Trauer. Nicht, weil wir nicht fühlen WOLLEN. Sondern weil wir (noch) nicht fühlen KÖNNEN.



Warum wir nach dem Verlust in Aktionismus flüchten


Wenn etwas Schlimmes passiert, will unser Kopf Kontrolle zurückgewinnen. Und Kontrolle heißt: Handeln. Aufräumen. Entscheiden. Kümmern. Alles, nur nicht still sitzen und spüren.

Denn Stille tut weh. Und genau das versuchen wir unbewusst zu vermeiden. Wir lenken uns ab, wir organisieren, wir „machen“. Und das fühlt sich für den Moment sogar gut an – wie ein kleiner Panzer gegen den Schmerz. Und ehrlicherweise macht es uns die Bürokratie und die Zeit nach dem Tod auch "leicht", in den Aktionismus zu stürzen, weil man viel entscheiden MUSS als nächster Angehöriger. Trauer aufschieben ist oft unser Schutzmechanismus.


Aber irgendwann – meist Wochen oder Monate später –bröckelt dieser Panzer bei eigentlich jedem. Und dann kommt die Trauer mit voller Wucht zurück. Wir müssen dann plötzlich die Trauer verarbeiten, die wir aufgeschoben haben.


Was passiert, wenn uns die Trauer später einholt


Aufgeschobene Trauer verschwindet nicht. Sie begleitet uns nur unauffällig...macht sich nicht wirklich bemerkbar. Und wartet.


Es gibt ein Sprichwort, das mich immer wieder wachrüttelt, immer wieder nachdenklich macht:

„Geh Du vor“, sagte die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht. Vielleicht hört er auf dich.“ „Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für dich haben“, sagte der Körper zur Seele"

Und genau so ist es mit der Trauer. Wenn wir sie wegschieben, meldet sie sich später auf anderen Wegen zurück –als Erschöpfung, Gereiztheit, Schlaflosigkeit oder dieses diffuse Druckgefühl in der Brust.

Manchmal auch als übertriebene Geschäftigkeit oder plötzliche Tränen, mitten im Alltag –beim Autofahren oder zwischen zwei Regalreihen im Supermarkt.

Oft erkennen wir den Zusammenhang erst gar nicht. Wir fragen uns, warum wir jetzt plötzlich so reagieren. Aber das ist wichtig zu wissen: das ist keine Schwäche. Kein Zeichen dafür, dass wir „nicht mehr funktionieren“.


Das ist die Trauer, die endlich Gehör will. Die sagt: „Jetzt bin ich dran.“


Als Trauerrednerin in München erlebe ich das oft: Menschen, die während der Abschiedsfeier noch „funktionieren“, die scheinbar gefasst bleiben, weil sie sich um alles kümmern müssen –gerade diese Menschen brechen oft Wochen später erst wirklich auf. Klappen zusammen, "funktionieren" nicht mehr so wie sie es von sich gewöhnt sind.


Und das ist völlig in Ordnung. Denn Trauer folgt keinem Plan. Aber sie braucht Raum.



Vier Schritte, um der Trauer-Prokrastination liebevoll die Stirn zu bieten


Menschen, die gewohnt sind, ständig in Bewegung zu sein, geraten oft ins Straucheln, wenn das plötzlich nicht mehr hilft. Sie fragen mich dann: „Wie geht das eigentlich – bewusst trauern?“

Und ich verstehe das so gut. Weil ich selbst so ein Mensch bin. Ich bin aktiv, ständig im Tun – und Stille fällt mir nicht leicht. Darum weiß ich auch, wie schwer es ist, die Trauer wirklich zuzulassen. Nicht zu verdrängen, nicht wegzuorganisieren, sondern ihr bewusst Raum zu geben.

Denn wir sind darin nicht geübt. Wir wissen, wie man plant, organisiert, funktioniert –aber nicht, wie man einfach ist. Und genau das ist der erste Schritt.


Ich habe versucht, ein paar ganz konkrete Schritte aufzuschreiben.

Nicht als Anleitung – denn Trauer folgt keinem festen Plan.

Aber vielleicht als kleine Wegweiser, die helfen dürfen, sich dem Schmerz ein Stück zu nähern, ihn nicht wegzuschieben, sondern ihm behutsam Raum zu geben.

Dies darf ein bisschen Deine Trauerhilfe sein.


1. Schritt: Kleine Inseln schaffen

Trauern heißt nicht, tagelang im Bett zu liegen.Ich persönlich könnte das auch gar nicht.Ich bin eher der Typ „Ich jogge die Trauer herbei“.

Aber manchmal ist ein bisschen Ruhe unfassbar wohltuend. Gerade dann, wenn man im Hamsterrad steckt oder dazu neigt, sich jeden Tag mit To-dos vollzupacken.

Es reicht oft schon ein kleiner Moment: ein Besuch am Grab, ein Spaziergang ohne Handy – am besten mal ganz allein, eine Tasse Tee, ein Foto in der Hand und der Blick aus dem Fenster.

Mehr braucht es gar nicht. Ein paar Minuten genügen. Das sind kleine, bewusste Inseln, in denen du dir erlaubst, traurig zu sein.

Wichtig ist nur: das Handy wirklich mal weglegen, keine Ablenkung, kein Scrollen, kein Planen. Einfach nur da sein. Nur du selbst.


2. Schritt: Gefühle benennen

Oft hilft es, Dinge laut auszusprechen – oder aufzuschreiben.„Ich bin wütend.“„Ich vermisse dich.“„Ich verstehe nicht, warum.

Wenn wir Worte finden, verliert der Schmerz ein Stück seiner Macht.


Ich bin jemand, der viel über Gefühle spricht – und ich habe das Glück, Menschen um mich zu haben, die zuhören, wenn’s weh tut. Aber nicht jeder hat das. Viele tun sich schwer, Worte für das zu finden, was in ihnen tobt. Und manche haben vielleicht auch niemanden, der den Schmerz mit aushält.

Dann kann Schreiben unglaublich helfen. Ein Gefühlstagebuch. Oder ein Brief an den Menschen, der fehlt. Nicht für andere – nur für sich selbst.


Ich vergleiche das oft mit einem Wollknäuel: am Anfang ist alles durcheinander. Du siehst kein Ende, keinen Anfang – nur ein Knäuel aus Wut, Sehnsucht, Traurigkeit und Müdigkeit. Aber wenn du dich hinsetzt, Stück für Stück, und langsam einen Faden aufnimmst, entwirrt sich das Chaos. Nicht sofort – aber mit der Zeit wird es klarer. Du erkennst Zusammenhänge, findest Worte, spürst dich wieder.


Und genau das ist Trauerarbeit: langsam, liebevoll, Faden für Faden Ordnung ins Innere bringen.


3. Schritt: Unterstützung zulassen

Dieser Schritt hängt eng mit dem vorherigen zusammen. Denn Trauer ist kein Einzelprojekt.

Rede mit Menschen, die dir guttun. Mit Freunden, mit anderen Trauernden oder – wenn du magst – auch mit Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleitern. Manchmal braucht es einfach jemanden, der zuhört. Ohne Ratschläge. Ohne ein „Kopf hoch“. Einfach nur da ist.

Ich weiß, wie schwer es sein kann, sich jemandem zu öffnen. Sich einzugestehen: Ich schaffe das gerade nicht allein. Aber es ist unglaublich wertvoll, die Trauer zu teilen.


Es gibt auch Trauergruppen, die sich regelmäßig treffen. Viele fragen mich, ob das nicht noch trauriger macht. Ich verstehe diese Sorge – aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall.

In Trauergruppen trägt jeder eine andere Geschichte, einen anderen Schmerz in sich. Natürlich hört man dort auch von Verlust, von Sehnsucht, von Abschieden. Aber gleichzeitig spürt man eine große Kraft in diesem Raum – eine, die trägt und verbindet.

Denn jeder ist an einem anderen Punkt seiner Trauer. Manche stehen ganz am Anfang, andere haben schon erlebt, dass der Schmerz sich verändert. Und genau das kann Hoffnung schenken. Man spürt: Ich bin nicht allein. Und man darf sich halten lassen – von Menschen, die wirklich verstehen, wovon man spricht.



4. Schritt: Bewegung und Sport

Dieser Schritt liegt mir persönlich sehr am Herzen. Ich bin ein sehr sportlicher Mensch – Bewegung gehört für mich zum Leben dazu. Und trotzdem merke ich: wenn es mir richtig schlecht geht, verschwindet der Sport als Erstes. Als würde mein Körper plötzlich keine Kraft mehr haben, sich auch noch anderweitig anzustrengen.

Gleichzeitig fehlt mir die Bewegung dann schmerzlich. Weil sie mir sonst so guttut, mich erdet, mir hilft, wieder bei mir anzukommen.

Eine liebe Kollegin aus der Trauerbegleitung, Sabine Storm hat mir einmal einen wunderbaren Impuls gegeben: Seelensport.

Seelensport ist ein gefühlsgerichtetes Bewegungskonzept, das körperliches Training mit emotionaler Verarbeitung verbindet. Es geht nicht um Leistung, nicht um Tempo, sondern darum, den Körper als Verbündeten zu erleben – als etwas, das mit der Seele zusammenarbeitet, statt gegen sie.


Ich verlinke euch hier gern die Seite von Katy Biber, die den Seelensport nach dem Tod ihrer Schwester entwickelt hat. Was Katy entwickelt hat, ist für mich ein phantastischer Kompromiss: Bewegung, die stärkt – innen wie außen. Ein Weg, der den Körper wieder mitnimmt, wenn die Seele gerade stolpert.

Denn Bewegung ist so so wichtig, auch wenn wir glauben, es geht gerade gar nicht.


Zum Schluss

Ich habe versucht, für Menschen, die so ticken wie ich, ein paar konkrete Tipps aufzuschreiben. Denn wenn ich im Internet recherchiere, finde ich oft Ratgeber, die irgendwie nicht zu mir passen. Ich bin kein Mensch, der stundenlang still sitzen und meditieren kann. Ich bin jemand, der macht, der organisiert, der durch Aktionismus manchmal auch Gefühle verdrängt.

Darum wollte ich Wege zeigen, die für Menschen wie uns funktionieren –für diejenigen, die ständig in Bewegung sind, aber trotzdem lernen dürfen, der Trauer Raum zu geben.

Ich hoffe, dass dir meine Gedanken ein kleines Stück weiterhelfen.


Sei dir einfach bewusst: Trauer lässt sich nicht wegarbeiten, nicht planen, nicht verschieben. Aber sie lässt sich leben. Und wenn du ihr Raum gibst, kann sie sich wandeln –langsam, leise, in etwas, das trägt.


Deine Hanna


Du bist nicht allein mit Deinen Gefühlen.

Wir wissen jetzt: Trauer lässt sich nicht aufschieben. Aber was, wenn der Schmerz schon vor dem Verlust da war?

Lies jetzt weiter: "Vortrauern: "Ich darf doch jetzt noch gar nicht traurig sein?" – Warum dieser Schmerz völlig okay ist."



Wenn du dir jemanden wünschst, der dich versteht und warm durch den Abschied führt – ich bin da.


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