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Vortrauern: "Ich darf doch jetzt noch gar nicht traurig sein?" – Warum dieser Schmerz völlig okay ist.

Aktualisiert: 31. Okt.

Über das Vortrauern – und warum es völlig okay ist


Frau blickt nachdenklich aus einem Fenster, gedämpftes Licht. Visualisiert die innere Einkehr und das Vortrauern bei langer Krankheit oder absehbarem Abschied. Symbolisiert das Aushalten und die ehrliche Trauerbegleitung der Lebensrednerin.


Dies hier ist ein sehr persönlicher Text heute. Weil ich es gerade selbst erlebe. Nicht als Trauerrednerin, sondern ganz privat.


Wenn jemand im nahen Umfeld schwer erkrankt, ändert sich plötzlich alles. Der Boden wird einem unter den Füßen weggezogen. Da ist die große Sorge. Die übermächtige Angst. Vor allem nachts.


Ich wache „gern“ um drei Uhr morgens auf –und dann geht’s los: Was ist, wenn? Was passiert, falls …?

Gedankenkarussell deluxe. Und dazwischen dieses leise, unangenehme Gefühl im Bauch, das irgendwie ständiger Begleiter geworden ist. Das einen daran hindert, in schönen Momenten komplett glücklich zu sein.


Man will stark sein. Man will hoffen. Aber manchmal kommt sie trotzdem – ganz leise, ganz heimlich: die Trauer.

Noch bevor der Abschied überhaupt da ist. Wie ein Damoklesschwert, das über allem schwebt.


Wenn das Herz schon trauert, obwohl der Kopf noch hofft


Ich hab lange gebraucht, um das einzuordnen. Weil man sich denkt: „Ich darf doch jetzt noch gar nicht traurig sein.“

Der Mensch ist doch noch da.

Wir reden, wir lachen, wir telefonieren, wir essen gemeinsam. Und trotzdem spürt man, dass jeden Tag ein kleines Stück verloren geht.


Das ist diese komische Zwischenwelt, in der man plötzlich lebt: man macht Wäsche, kocht, arbeitet, plant –und gleichzeitig ist da diese ständige Anspannung, dieses Gefühl von „gleich passiert etwas“. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf Raten.


Eine liebe Freundin hat mich neulich angerufen. Ihr Bruder ist schwer krank, keiner weiß, wie es weitergeht. Und sie sagte:„Ich hab das Gefühl, ich verliere ihn jeden Tag ein bisschen mehr. Und das macht mir Angst. Ich fühl mich, als würde ich schon trauern –aber das darf ich doch gar nicht, oder?“


Doch. Genau das darf man.

Das ist antizipatorische Trauer, oder einfacher gesagt: Vortrauern.

Eine Trauer, die sich einschleicht, wenn man spürt,dass ein Abschied näherkommt. Und sie ist völlig normal. Auch wenn sie sich seltsam, verboten oder „zu früh“ anfühlt.


Kleine Abschiede – schon bevor der große kommt


Ich merke gerade, dass diese Zeit voller kleiner Abschiede ist: Abschied von Gesprächen, die es so vielleicht nicht mehr geben wird. Abschied von der alten Leichtigkeit. Abschied von der Hoffnung, dass alles wieder wird wie früher.


Und gleichzeitig ist da so viel Liebe. So viel Nähe. Man hält sich fester, lacht über Kleinigkeiten, merkt, wie kostbar jeder Tag ist.


Ich erlebe das auch in Familien, die ich als Trauerrednerin begleite. Oft beginnt die Trauer nicht erst nach dem Tod –sie schleicht sich schon vorher ins Herz. Bei langen Krankheiten, bei Demenz, bei Pflege. Viele sagen dann zu mir:„Ich hab das Gefühl, ich hab ihn schon ein bisschen verloren –und das fühlt sich falsch an.


Aber es ist nicht falsch. Es ist einfach nur menschlich.


Wenn der Abschied schon vorher beginnt


Es gibt diese Zeit, in der man schon trauert, obwohl der Mensch noch da ist. Man feiert Geburtstag, trinkt Sekt, lächelt –und merkt trotzdem, dass das Herz längst angefangen hat, loszulassen. Ganz vorsichtig, fast heimlich.


Und das ist das Vortrauern. Weil es genau das ist: eine Trauer, die zu früh kommt –und doch genau richtig ist. Sie ist wie ein Schutzmechanismus der Seele. Sie bereitet uns langsam auf das Unvermeidliche vor. Nicht, um es leichter zu machen, sondern, um es aushaltbarer zu machen.


Viele erschrecken davor. Sie denken, sie seien „zu sensibel“ oder „zu schwach“.


Aber nein – das Gegenteil ist der Fall. Es zeigt, dass du spürst, dass sich etwas verändert. Dass du liebst. Und dass du innerlich schon anfängst, dich zu verabschieden –nicht vom Menschen, sondern vom Leben, wie es einmal war.


Wenn der Abschied dann wirklich kommt


Wenn ich später als Trauerrednerin eine Feier gestalte, dann spüre ich diesen langen Weg des Vortrauerns in jeder Geschichte. In jedem Satz, in jedem Atemzug.


Diese stille Zeit davor – sie gehört mit dazu. Die Erschöpfung. Das Hoffen. Das viele Aushalten. All das ist Teil eurer Geschichte.


Eine Trauerfeier ist dann nicht nur das Ende, sondern der Abschluss eines langen Weges. Und ich finde, genau das darf man auch spüren.


Manchmal denke ich mir nach den Angehörigengesprächen:

„Die Liebe hat längst angefangen, Abschied zu nehmen"

Und genau das ist es. Ein Innehalten. Ein Loslassen. Ein Weiterlieben.


Ist der Schmerz des Verlustes dadurch automatisch kleiner?

Nein. Ganz und gar nicht. Er ist nicht weniger schlimm, nicht leichter auszuhalten. Manchmal ist der Tod weniger überraschend – ja. Aber selbst das heißt nicht, dass der Schmerz weniger tief geht.


Was ich allerdings oft erlebe: dass Familien nach einem langen Krankheitsweg nicht so traurig sind, wie sie es erwartet hätten. Und das verunsichert viele unglaublich. Sie sagen dann Dinge wie:„Ich weine gar nicht so viel, wie ich dachte.“

Oder:„Müsste ich nicht völlig zusammenbrechen?“


Und dann kommen diese ganz menschlichen, schmerzhaften Gedanken: Habe ich nicht genug geliebt? Bin ich herzlos? Bin ich normal?


Ich kenne diese Fragen so gut. Und ich weiß: dahinter steckt kein Mangel an Liebe. Ganz im Gegenteil.

Oft hat die Seele einfach schon einen Teil der Trauerarbeit geleistet.

Über Wochen, Monate, manchmal Jahre. Man hat schon so oft losgelassen – an kleinen Stellen, bei jedem Krankenhausaufenthalt, bei jedem Rückschlag, bei jedem Blick, in dem man spürt: es wird nicht mehr wie früher.


Das ist dieses Vortrauern. Und dieses lange, leise Abschiednehmen sorgt manchmal dafür, dass am Ende kein Schock bleibt, sondern eine stille, erschöpfte Traurigkeit. Kein großes Aufbäumen, sondern eher ein leises „Ja, jetzt darf er gehen.“


Das bedeutet nicht, dass man weniger geliebt hat. Sondern, dass man schon so lange geliebt und getragen hat, dass der Körper und die Seele kaum noch Kraft haben, um laut zu trauern.

Ich sage das oft in meinen Gesprächen nach einer Trauerfeier:

„Du hast nicht zu wenig gefühlt. Du hast schon so viel gefühlt – nur eben früher.“

Und genau das ist das Paradoxe an der Trauer, die schon vor dem Tod beginnt: sie verteilt sich über so viele Tage, Wochen und Nächte, dass sie am Ende leiser wird –aber deswegen nicht weniger wahr.


Du darfst jetzt schon traurig sein


Wenn du gerade in dieser Zwischenzeit steckst –in der alles so fragil ist, in der du lachst und weinst in einem Atemzug –dann möchte ich dir sagen: das ist Vortrauern. Und es ist völlig okay.

Du darfst traurig sein, obwohl der Mensch noch lebt. Du darfst wütend, müde, erschöpft und liebevoll zugleich sein. Du darfst dir Pausen nehmen, Hilfe holen, atmen. Denn diese Zeit zehrt. Sie ist schwer – und gleichzeitig so wertvoll.

Weil sie euch noch einmal zusammenbringt, auf einer ganz anderen, leisen Ebene.


Ich begleite Menschen nicht nur am Tag der Trauerfeier, sondern auch davor –als Trauerbegleiterin, als Zuhörerin, als jemand, der diese Stille kennt: diese Mischung aus Hoffnung, Angst und Liebe.

Denn manchmal beginnt Heilung genau da, wo man sich erlaubt, traurig zu sein –noch bevor der Abschied kommt.



Deine Hanna

Trauerrednerin & Trauerbegleiterin in München



Wenn du eine Trauerrednerin brauchst, melde Dich sehr gern bei mir:



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